Der ungleiche Zwilling

Wege zum Glück

Bleiben ist einfach. Es ist ein Stück Geborgenheit, das man sich bewahrt. Eine Entscheidung für die Sicherheit – die uns die Neugier niemals gibt. Gehen ist anders. Denn gehen heißt bewegen und bewegen heißt verändern. Es ist die Ungewissheit, die uns lockt. Aber ist Bleiben deshalb gleich Stillstand? Und ist Gehen deshalb gleich Mut? Ist es nicht eine Willenskraft, die uns zum Bleiben verleitet? Und ist Gehen nicht bloß der Wunsch anzukommen, der uns weiterziehen lässt?

Nahe Heimat oder weite Welt, Tradition oder Wandel… Nicht selten sind es Ausbildung und Beruf, die uns das erste Mal vor die Wahl zwischen dem „Hier“ und dem „Dort“ stellen. Manche entscheiden für den Moment, manche für ihr Leben. Die Einen tun es bewusst, die Anderen aus Gefühl. Doch wie man ihn auch fasst, ein Entschluss hat immer Gründe: Familie und Freunde, aber auch Studium und Job können ausschlaggebend sein. Sie binden uns an die Heimat oder verleiten uns zum Gehen.

DWFB traf ein Zwillingspaar, das vor rund fünf Jahren genau vor derselben Entscheidung stand: „Gehe ich weg oder bleibe ich hier? Suche ich mein Glück oder habe ich es gefunden?“. Jan und Lisa fanden ihre ganz eigenen Antworten auf diese Frage – und dennoch bewiesen sie uns beide: Wege zum Glück gibt es viele. Entscheidend ist nicht, welchen man geht, sondern allein, dass man am Ende sein Ziel erreicht

 

Zu Hause ist meine Welt
Im Gespräch mit Jan Gastreich

Als ich an einem trüben Donnerstagmorgen in dem 70-Seelen-Dorf Sange ankomme, frage ich mich vor allem eins: Wie kann es sein, dass ich vorher noch nichts von diesem Dorf gesehen habe? Ich bin umgeben von altem Fachwerk und Höfen, von grünen Weiden und Wald. Sofort male ich mir aus, wie das Treiben an diesem schönen Ort an einem sonnigeren Augusttag ausgesehen hätte und denke dabei an vorbeifahrende Trecker, spielende Kinder und plaudernde Nachbarn. Die Tür zu dem pittoresken Fachwerkhaus, in dem die Zwillinge Lisa und Jan aufgewachsen sind, steht erstaunlicherweise offen. Ich erfahre später, dass dies hier immer so sei, da jeder jeden kenne und man stets ein Auge auf das Hab und Gut des Anderen habe. Aussagen wie diese bestätigen mich in meinem Gefühl, dass man sich in einer Nachbarschaft wie dieser noch sicher fühlen kann.
Was ich bereits vor unserem Treffen wusste: Jan und Lisa studieren momentan zwar beide, wählten in Vergangenheit jedoch unterschiedliche Wege. Wie auch seine Schwester, verließ Jan nach dem Abitur sein Zuhause, um zu studieren. Er tat dies – im Gegensatz zu ihr – aber mit dem festen Vorhaben, eines Tages wieder ins Sauerland zurückzukehren.

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In unserem Gespräch erzählt mir Jan, dass er sich vor fünf Jahren nicht wie viele Studenten aus der Gegend für ein Studium in Siegen, sondern für Wirtschaftsingenieurswesen an der RWTH Aachen entschied, um einerseits einen gewissen Grad an Unabhängigkeit genießen zu können und andererseits das zu lernen, was ihn wirklich interessiert. In wenigen Wochen wird der Masterstudent außerdem ein Auslandssemester antreten, um „noch mehr von der Welt zu sehen“.

In diesem Moment frage ich mich, ob ich tatsächlich dem richtigen Interviewpartner gegenüber sitze – wollten wir nicht über den Wunsch sprechen, in der Heimat zu bleiben? „Möchtest du denn später nach Sange zurückkehren?“, hake ich deshalb nach und taste mich allmählich zum Kern unseres Gesprächs vor. „Langfristig schon. Mittelfristig kann sich immer etwas Cooles ergeben. Gerade nach dem Studium, je nachdem von wem man Angebote bekommt“. Ich muss ihm Recht geben: Ein attraktives Jobangebot würden wohl die wenigsten ausschlagen. Selbst, wenn es nicht ganz in die ursprüngliche Lebensplanung passt. Dennoch hat der zielstrebige Jan ein sehr konkretes Bild von seiner Zukunft: „Es ist schon die Wunschvorstellung, sich hier später alles aufzubauen.“

Dieser Traum beinhaltet nicht nur, irgendwann seine eigenen Kinder in Sange aufwachsen zu sehen, sondern auch weitere Traditionen fortzuführen. So befindet sich das Haus beispielsweise seit vielen Generationen im Familienbesitz – und das solle auch so bleiben: „Auf sowas lege ich Wert. Manche haben überhaupt kein Interesse daran. Beruf, schön und gut. Aber wenn es hart auf hart kommt, dann zählen definitiv Freunde und Familie. Da steckt man im Beruf auf jeden Fall zurück.“

”Was man hier hat… jeder kennt jeden. In Aachen wohne ich seit fünf Jahren im selben Haus und kenne die Leute nur vom Sehen.“

Darüber hinaus hat er die Vorzüge seiner Heimat in den letzten Jahren immer mehr zu schätzen gelernt. „Was man hier hat… jeder kennt jeden. Vor allen Dingen hier bei uns. In Aachen wohne ich seit fünf Jahren im selben Haus und kenne die Leute nur vom Sehen. Vom Grüßen im Treppenhaus. Im Dorf wächst man eben anders auf. Hier haben wir ein schönes, nachbarschaftliches Zusammensein.“ Hinter Jans Wunsch, sein Familienleben in Sange aufzubauen, verbirgt sich allerdings nicht nur der Hang zur Tradition und die Verbundenheit mit dem Ort, sondern auch die gute Vereinbarkeit des Privatlebens mit dem Beruf. Schließlich sind die Aussichten mit seiner Vorbildung in der hier ansässigen Automobilzuliefererbranche durchaus rosig. Jan fasst deshalb zusammen:

„Auch, wenn ich am Anfang gesagt habe, dass Familie Glück bedeutet… Der Beruf ist natürlich auch nicht egal. Es muss eben ALLES passen.“

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Bin ich in der Welt
Im Gespräch mit Lisa Gastreich

Es muss eben alles passen – ein Motto, das Lisa, Jans Zwillingsschwester, ebenfalls unterschreiben würde. Trotzdem scheinen sich die Lebensvorstellungen der Zwillinge in vielen Punkten voneinander zu unterscheiden. Neugierig darauf, wie „unterschiedlich gleich“ Zwillinge tatsächlich sein können, verabrede ich mit Lisa einen Termin für ein Telefonat. Freundlich und aufgeschlossen erzählt mir die 25-jährige Masterstudentin genauer, weshalb sie sich nach der Schule für einen Umzug ins Ruhrgebiet entschied und ihre Zukunft nicht wie ihr Bruder im Sauerland sieht.

„Ob Essen oder Duisburg, das war kein großer Schritt für mich. Mir war bereits relativ früh klar, dass ich irgendwann raus möchte. Dass ich mal eine Stadt sehen und dort eine gewisse Zeit meines Lebens verbringen möchte. Natürlich bin ich schon noch im Sauerland verwurzelt, weil meine Familie und Freunde hier wohnen und komme deswegen am Wochenende gerne mal zurück“. Dennoch verbringt Lisa aufgrund ihres Jobs und ihrer Beziehung den Großteil ihrer Zeit in der neuen Heimat.

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Bereits vor ihrem abgeschlossenen Abitur bewarb sie sich für ein duales Studium bei einem Großkonzern im Ruhrgebiet und absolvierte dort später erfolgreich ihren Bachelor im International Management. Dass sie ihre Heimat definitiv verlassen würde, stand für sie also schon früher als für andere Mitschüler fest. Heute ist sie bei dem Großkonzern festangestellt und macht nebenberuflich ihren Master in Business Administration.

Um ihrer Vorstellung von der Zukunft genauer auf den Grund zu gehen, frage ich Lisa, was sie unter Glück versteht und welche Rolle Beruf und Familie in diesem Zusammenhang spielen. „Glück ist für mich erstmal, dass man mit sich und dem, was man tut, zufrieden ist. Ich würde sagen, das bin ich im Moment. Wobei die Familie schon einen hohen Stellenwert hat. Wenn aus irgendeinem Grund ein beruflicher Wechsel zwingend notwendig wäre, würde ich das in Kauf nehmen – auch, wenn es schwer fallen würde. Die Familie wäre in so einem Fall wichtiger, als die berufliche Verwirklichung. Es ist aber auch so, dass man nicht zufrieden ist, wenn man beruflich nicht ausgelastet ist oder nicht das macht, was man machen möchte.“

Relativ schnell merke ich, dass Lisa und Jan sich in Wahrheit doch ähnlicher sind, als ich am Anfang angenommen habe. Ihre Antwort klingt für mich sogar fast, als könne Lisa sich vielleicht doch irgendwann ein Leben im Sauerland vorstellen. Ich versuche deshalb rauszufinden, ob ich mit dieser Vermutung richtig liege.

„Gute Frage. Im Moment ist es auf jeden Fall nicht geplant. Ich sehe meine Zukunft eher im Ruhrgebiet oder zumindest in einem größeren städtischen Raum. Beruflich habe ich hier eben bessere Perspektiven, als vielleicht im Sauerland“, erläutert sie mir ihren Hauptbeweggrund. Die generelle Einstellung, dass der Beruf die Grundlage für ein glückliches Leben darstellt und die Wahl des Wohnortes stark beeinflussen kann, teilen die Zwillinge also.

”Glück ist für mich erstmal, dass man mit sich und dem, was man tut, zufrieden ist. Ich würde sagen, das bin ich im Moment.“

Auch ihren Sinn für Zusammenhalt und ein familiäres Gemeinschaftsgefühl haben beide aus ihrer guten Erziehung mitgenommen. Der Unterschied zwischen ihnen scheint jedoch in der verschiedenen Ausprägung ihrer Interessen zu liegen – während das Sauerland ihrem Bruder beruflich eine sehr gute Perspektive sowie viele Möglichkeiten zur Ausübung seiner Hobbies bietet, vermisst Lisa genau diese Aspekte in ihrer Heimat. „Ich finde hier im Ruhrgebiet schön, dass man so viele Möglichkeiten hat, Dinge zu unternehmen. Man ist schnell in anderen Städten und hat alles in unmittelbarer Nähe, ob Oberhausen, Essen oder Dortmund…“. Gerade um all diese Möglichkeiten voll auszuschöpfen und sich zunächst beruflich selbst zu verwirklichen, peilt Lisa eine Zukunft in der Großstadt an. Berufliche Selbstverwirklichung – auch für Jan steht dieser Aspekt momentan im Mittelpunkt, allerdings möchte er sich sein späteres Leben in der Heimat aufbauen.

Doch wie die Geschichten der Zwillinge auch weitergehen, ihre wohl behütete Kindheit im Dorf werden beide nie vergessen. Schließlich hat sie den Grundstein für alle zukünftigen Wege gelegt.

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