Den Tiger aus dem Käfig lassen

New Work – was wirklich dahintersteckt

Als der austro-amerikanische Sozialphilosoph Frithjof Bergmann vor mehr als 30 Jahren das Konzept New Work – neue Arbeit – entwickelte, bot er, als Ergebnis seiner Forschungstätigkeit, eine potenzielle Lösung zu dem aus seiner Sicht drängenden Problem der drohenden Erwerbslosigkeit nach dem Ende des Job-Systems. Bei seinen Forschungen untersuchte er den Freiheitsbegriff bezogen auf das herrschende Lohnarbeitssystem und formulierte daraus die sozialpsychologisch berechtigte Forderung nach mehr Freiheit zur menschlichen Potenzialentfaltung.

Bergman verglich bei seinen Studien den Menschen im Lohnarbeitssystem mit einem eingesperrten Tiger im Zoo. Der Tiger verfügt zwar über eine unglaubliche Kraft, aber nach Jahren der Gewöhnung an den Käfig überschreitet er dessen Grenzen nicht mehr, auch wenn man ihm den Käfig wegnimmt. Der Tiger hat die bloße Vorstellung eines Lebens außerhalb seines Käfigs verloren

Intrinsische Motivation

Bergmanns Sicht auf die menschlichen Potenziale war richtig und wurde durch seine praktischen Erfolge in dem von ihm später gegründeten Zentrum für Arbeit bestätigt. Eine Vielzahl psychologischer Studien belegt seine Annahmen. 1995 formulierten zum Beispiel die Psychologen Jutta Heckhausen und Richard Schulz ihre Lebenslauftheorie der Kontrolle: Demnach streben Menschen lebenslang nach externer Wirksamkeit und Kontrolle. Mit dieser von ihnen bezeichneten Primärstrategie verfolgen sie das Ziel, ihre Umwelt entsprechend ihrer eigenen Vorstellungen wirksam zu beeinflussen, sie den eigenen Bedürfnissen und Zielen anzupassen und sie nach ihren eigenen Ideen zu verändern. Dazu setzen sie bereitwillig ihre Fähigkeiten sowie Zeit und Anstrengung ein. Es geht folglich um den intrinsischen Wunsch eines jeden Menschen nach persönlicher Entfaltung. Im sozialen Umfeld benötigen Menschen dazu Freiheitsgrade. Werden diese jedoch massiv eingeschränkt, drohen die Menschen zu verkümmern.

Mangel an Zufriedenheit, Fehlen von Engagement, reduzierte Leistung

In einem solchen Fall entwickeln sie selbständig sogenannte kognitive Sekundärstrategien, um den Verlust der Selbstbestimmung zu kompensieren. So geben sie beispielsweise ihre eigenen Ziele auf, verwerfen diese als unwichtig oder stellen sie gar als sinnlos dar.

Auf diese Weise reduzieren sie ihren persönlichen Zielekanon, kreieren Ziele, die erreichbar sind und entwickeln ihre gefühlte Erfolgsquote der Zielerreichung automatisch wieder in die Höhe. Diese innere Bereitschaft zur Anpassung der eigenen Bedürfnisse und Ziele an kontextuelle Gegebenheiten nimmt mit steigendem Lebensalter zu.

Ausgleichende Gerechtigkeit?

In Unternehmen treffen wir diese Form von kognitiver Selbstbeschränkung sehr häufig an. Mitarbeiter finden sich mit ihrer Situation eingeschränkter Wirksamkeit ab. Sie kapitulieren und reden sich den Verlust von Freiheitsgraden in solchen Fällen gerne schön. Sie erklären beispielsweise, dass es, obschon sie die Dinge eigentlich anders machen würden, keinen Sinn macht, sich gegen die Geschäftsleitung aufzulehnen, dass es andere Ziele gibt, die wichtiger geworden sind oder dass man ganz einfach seinen Fokus in den privaten Lebensbereich gelegt hat. Der Preis, den das Unternehmen dafür in der Regel zahlt, ist ein Mangel an Zufriedenheit, ein Fehlen von Engagement, eine reduzierte Leistung und manchmal auch eine schlechte Gesundheit der Mitarbeiter. Es gibt in der Praxis viele Beispiele dafür, dass Menschen in Lohnarbeitsverhältnissen verkümmern, wenn man ihre Selbstwirksamkeit beschränkt und ihnen die Möglichkeit vorenthält, ihre Primärziele zu verfolgen.

Unglücklicher Tiger

Da hockt der Bergmannsche Tiger also in seinem Käfig, diesmal in Gestalt eines Lohnarbeiters. Wenn dieser seine primären Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten als stark eingeschränkt empfindet, wird er sich möglicherweise irgendwann mit seiner Situation abfinden und den Käfig akzeptieren. Diese Form der Zähmung interpretieren viele Arbeitgeber als den Moment, in dem ein Mitarbeiter endlich auf Linie kommt. Diese Form der Konditionierung hat allerdings weitreichende Konsequenzen. Jeder zahlt einen Preis. Der Preis für den Mitarbeiter ist dabei Unglück, der Preis für das Unternehmen der Verzicht auf menschliche Initiative, Kreativität und Leistung.

Nun finden wir dieses Phänomen nicht nur in der Lohnarbeit. Es hat sich längst auch in andere gesellschaftliche Bereiche eingeschlichen. Wie steht es um die persönlichen Freiheitsgrade in unseren Bildungs-, Gesundheits- oder Rentensystemen? Wie stark reguliert der Staat die Freiheitsgrade von Menschen aus eigener Initiative? Was hält Politik für ihre Wähler für gut oder schlecht? Und wo soll das alles einmal enden? Die Reduktion autonomer Gestaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft führt bei auftretenden Konflikten zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Zielen zu einer steigenden Zahl unzufriedener Menschen, die sich entweder im Rahmen ihrer Sekundärstrategien mit dem Kontrollverlust abfinden und den Zustand als solchen akzeptieren oder sich einem zunehmend mütterlichen Staat am Ende verweigern.

Weg mit dem Käfig

Den Tiger aus dem Käfig lassen

Bergmanns New Work Begriff, also der Ruf nach Freiheit und Selbstwirksamkeit, lässt sich also nicht alleine auf die Betrachtung der Lohnarbeit reduzieren. New Work strahlt tief in die Entwicklung unserer Gesellschaft hinein. New Work erhebt implizit die Forderung nach einer Neuordnung, einer Restrukturierung der Gesellschaft und zwar vom Menschen her. In diesem Sinne ist sie nicht nur eine humanistisch-philosophische, sondern auch eine zutiefst psychologische Perspektive. Erst mit New Work erhält der Spruch vom „Menschen im Mittelpunkt“ überhaupt Sinn.

Kurze modische Episode?

Die wichtigste Frage lautet: Was machen wir nun aus dem Hype um den neuen Modebegriff New Work? Ein kurzer Blick in die Vergangenheit lohnt: Allein in den letzten 30 Jahren wurden dutzende Ansätze wie zum Beispiel Business Reengineering, Lean Management, Kaizen, Six Sigma, Target-Costing oder Shop-Floor-Management über die Dörfer getrieben. Alle diese Ansätze hatten ursprünglich im Kern einen gleichen Ansatz: Die Potenziale in den Mitarbeitern eines Unternehmens oder einer Organisation erschließen, um damit die Produktivität, die Kreativität oder das Ergebnis zu verbessern. Das Ziel war, die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen stärker zu nutzen. Alle Ansätze wurden sehr schnell durch die Beratungsindustrie okkupiert und korrumpiert. Die ehemals weitgreifenden Ansätze verkümmerten zu reinen Kosten- und Produktivitätswerkzeugen. Mit dem Beraterversprechen kurzfristiger Kostenreduzierungen wurden die mittel- und langfristigen Ziele auf dem Scheiterhaufen der Quartalsberichte verbrannt. Kaum ein Unternehmen konnte sich diesem Sog entziehen. Die freigesetzten Potenziale wurden nicht zur wirklichen Weiterentwicklung des Unternehmens eingesetzt, sondern liquidiert und kurzfristigen Ergebnisbetrachtungen geopfert.

Humanismus pur

Schaut man die Ausprägung des Begriffes New Work heute an, so sieht man eine Anhäufung von Methoden der Arbeitsplatzgestaltung, der Arbeitsorganisation und der damit verbundenen Technologien. Vieles dreht sich um Arbeitsplatzgestaltung, agile Methoden, Heimarbeitsplätze und einiges mehr. Und schon sind sie wieder da, die bunten Schraubenzieher der 80er Jahre.

Das menschliche Bedürfnis nach Autonomie, Freiheit, Kontrolle und Selbstwirksamkeit

Tatsächlich greift New Work zu kurz, wenn man das Konzept auf die Notwendigkeit bestimmter Strukturen, Prozesse oder Instrumente zur Bewältigung des Wandels durch Globalisierung oder Digitalisierung reduziert und Fachberatung zu den einzelnen Instrumenten zum Geschäftsmodell erhebt. New Work ist eigentlich eine Grundhaltung, die auf das immanente menschliche Bedürfnis nach Autonomie, Freiheit, Kontrolle und Selbstwirksamkeit abzielt. New Work ist nicht allein eine organisatorische Antwort auf die historischen Entwicklungen im Lohnarbeitssektor. New Work ist eine grundsätzliche Haltung zu Selbstbestimmung und Freiheit. New Work ist zutiefst menschlich. New Work ist eine Freiheitsbewegung, die eine Entwicklung derjenigen menschlichen Potenziale ermöglicht, die durch gesellschaftliche Strukturen wie Staat und Religion oder auch technische Entwicklungen wie Globalisierung, Automatisierung oder Digitalisierung unterdrückt werden. New Work ist folglich eine grundlegende Haltung zur Schaffung von Rahmenbedingungen, unter denen Menschen zu Selbstbestimmung gelangen und mehr Zufriedenheit, Engagement, Leistung und Gesundheit entwickeln. New Work ist eine humanistische Vision einer besseren Welt. 

Können New Work Instrumente die Welt verbessern?

Bei der Frage, was das New Work Konzept in der Praxis bedeutet, findet man eine Studie zur Zukunft der Arbeitswelt des Instituts HR|Impulsgeber und der Detecon Consulting aus dem Januar 2016, die den Einsatz bestimmter New Work Instrumente in Unternehmen untersucht. Nach Auffassung der Verfasser der Studie bietet New Work in der Theorie Freiräume für Kreativität und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und befriedigt das Bedürfnis nach sinnvoller Arbeit. Demnach soll Arbeit keine reine Betätigung mehr sein, um den Lebensunterhalt zu verdienen, sondern Spaß machen und erfüllend sein. Das altbekannte Motto lautet: Arbeiten, um zu leben, statt leben, um zu arbeiten.In der Praxis ist jedoch durch New Work nicht nur die Arbeit selbst, sondern auch das berufliche Umfeld betroffen. Aus diesem Grunde sind zur Umsetzung von

New Work Änderungen sowohl in der Arbeitsorganisation, als auch in der Arbeitsstruktur notwendig. Auch Arbeitsplätze und Werkzeuge sollten in diesem Zusammenhang neu ausgerichtet werden. Um neue Arbeitswelten zu realisieren, ist für die Autoren jedoch entscheidend, die Veränderungen weicher Faktoren, wie Führung, Haltung, Changemanagement und Kultur im Sinne von New Work zu initiieren. Leichter gesagt als getan. Denn dazu schweigen nämlich die meisten Studien.

Die Studie untersucht folgende New Work Instrumente auf ihre Relevanz in der Praxis:

Individualität
Beteiligung der Mitarbeiter an der Strategieentwicklung; Leistungs- und Lernziele können selbst festgelegt werden; Teil der Arbeitszeit für kreative oder eigene Projekte

Führung
Flexibler Wechsel zwischen Führungs- und Fachkarriere; Führungskraft als Coach oder Personalentwickler; Moderne, demokratische Führungskultur

Agilität
Schnelle Entscheidungsprozesse;
Weniger Hierarchiestufen

Flexibilität
Flexible Arbeitsorte und Home-Office-Möglichkeiten; Flexible Arbeitszeiten; Job-Rotation; Wechsel der Arbeitsorte oder Stellen

Bürokonzepte
Kreative Workspaces

Sie kommt zu dem Schluss, dass die Einführung von New Work Instrumenten in vielen Fällen den tatsächlichen Mitarbeiterwünschen hinterher hängt und besonderer Handlungsbedarf insbesondere im Bereich der Individualisierung von Arbeit besteht.

Bei der Konzeption und Umsetzung solcher Konzepte stellen Geschäftsführung und Führungskräfte die größten Barrieren dar. Dabei ist es häufig die Angst vor Macht- oder Kontrollverlust, die bei Führungskräften ein Unbehagen auslöst. Und dies, obschon schnelle Entscheidungsprozesse, demokratische Führungskultur und Creative Workspaces eine Firma nicht nur beliebter bei Ihren Mitarbeitern machen, sondern auch den Umsatz steigern. Firmen, die New Work Instrumente anwenden, haben darüber hinaus eine 3-mal höhere Chance ein attraktiver Arbeitgeber zu sein.

Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass Mitarbeiter, die das New Work Konzept für gut befinden, sich von Führungskräften insbesondere mehr Verantwortungsübergabe, die Förderung der fachlichen Entwicklung sowie mehr Eigenverantwortung für den Ort der Tätigkeitserfüllung wünschten.

Zu den konkreten Wünschen an die Führungskräfte in einem New Work Konzept befragt, zählten die Mitarbeiter auf:

17%

Klare Kommunikation:
Mehr Transparenz, offenere Kommunikation, klare Aufgaben und Zielvorgaben sowie sachlicher diskutieren

17%

Authentische Führungspersönlichkeit:
Begeisterung mit Vision, mehr Motivation, bessere Kooperation mit dem Team, mehr Vorbild im Rollenmodell und „Roadblock-Remover“

17%

Mitarbeitereinbindung und Eigenverantwortlichkeit:
Einbindung von Mitarbeitern bei wichtigen Entscheidungen, auf Anregungen der Mitarbeiter besser eingehen, weniger Kontrolle, mehr Vertrauen, mehr Verantwortung abgeben und mehr Selbstständigkeit

12%

Feedback und persönliche Entwicklung:
Mehr Feedback geben und einholen, konkreteres Feedback, Karrieregespräche und individuelle Förderung sowie bessere Weiterbildung

7%

Entscheidungsstärke:
Schnellere Entscheidungen und hohe Verbindlichkeit

11%

Wertschätzung:
Mehr Lob und Anerkennung, mehr Respekt, mehr Freundlichkeit und mehr Menschlichkeit

Was bei dieser, aber auch vielen anderen Studien zum Thema New Work auffällt, ist der starke Fokus auf die Maßnahmen und Werkzeuge. Dabei wird in der Regel empirisch nachgewiesen, dass durch die Umsetzung der Maßnahmen bzw. Anwendung der Werkzeuge Verbesserungen bei bestimmten Zielgrößen festzustellen sind.

Ungeklärte Fragen

Unbeantwortet bleibt jedoch zumeist die Frage, wie ein Konzept in der Praxis entwickelt und erfolgreich umgesetzt werden kann. Dabei ist nicht danach gefragt, welche organisatorischen Maßnahmen eingeleitet werden müssen, sondern wie die Haltung der entscheidenden Personen verändert werden kann, um eine Einführung eines New Work Konzeptes überhaupt zu ermöglichen. Insbesondere die Beschreibung des notwendigen Veränderungsprozesses und des Entwicklungskonzeptes für Führungskräfte und Mitarbeiter bleiben viele Autoren schuldig. Der Erfolg von Veränderungsprozessen wird nun mal im Wesentlichen durch die Haltung bestimmt, die insbesondere Führungskräfte benötigen, um New Work Konzepte in der Praxis erfolgreich zu gestalten.

 

Reinventing Organizations

Reinventing Organizations

Ein illustrierter Leitfaden sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit

Frédéric Laloux, erfahrener Unternehmensberater und McKinsey-Partner, begleitet als Coach Führungskräfte, die nach radikalen neuen Wegen der Organisation ihrer Unternehmen suchen.
Laloux hat 12 Organisationen unterschiedlichster Größe, Altersstruktur und Branchenzugehörigkeit analysiert und auf Neuerungen gegenüber altbekannten Organisationen untersucht. Ihn beschäftigt die Frage, wie sinnstiftende Zusammenarbeit aussehen kann. Wie schafft man Rahmenbedingungen, in denen man zutiefst wirkungsvoll mit Herz und Seele arbeiten mag? Denn laut Studien leisten zwei von drei Arbeitnehmern Dienst nach Vorschrift, und jeder siebte hat bereits innerlich gekündigt. Die Unzufriedenheit im Beruf ist bedenklich, denn die Arbeit nimmt einen Großteil der Lebenszeit in Anspruch.

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