Forscher und Entdecker

Eine Schule, die agil mit den Prinzipien der flachen Hierarchien arbeitet, oder: was der deutsche Mittelstand von der Neue Schule Hamburg lernen kann.

Getrieben von technologischem Wandel und disruptiven Wettbewerbern suchen Unternehmen nach Wegen, schneller, innovativer und zukunftsfähiger zu werden. Gleichzeitig stehen immer mehr Nachwuchs-
talente traditionellen Karrierepfaden skeptisch gegenüber. Wie sieht nun das Unternehmen der Zukunft aus?

Hier lohnt der Blick in die Neue Schule Hamburg (NSH). Eine allgemeinbildende Schule, die seit 10 Jahren erfolgreich mit den Prinzipien der flachen Hierarchien lehrt und arbeitet. Das Ergebnis: Junge Menschen, die motiviert und aus sich selbst heraus ihre Potenziale entwickeln und in die Schule einbringen.

Selbstbestimmung und Verantwortung für die Gemeinschaft

Eine Schule, die erstmal gewöhnungsbedürftig ist. Eine Schule, die konsequent die individuelle Freiheit der Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt stellt. Eine Schule, deren tragenden Säulen die Selbstbestimmung und demokratische Mitgestaltung sind.

In der NSH bestimmen die Kinder und Jugendlichen innerhalb der Regeln der Schulgemeinschaft und des Hamburger Schulgesetzes selbst über ihren Lern- und Entwicklungsprozess: Für 85 Schülerinnen und Schüler gibt es keinen verpflichtenden Unterricht und vorgeschriebene Lernziele. Keine Klassenräume, keinen Gong, keine festen Stundenpläne und Pausen, keine Noten. Dabei streben fast alle einen staatlich anerkannten Abschluss an, doch für den Weg dahin hat jeder während der Schulzeit seine eigenen Pläne und Vorhaben, so unterschiedlich wie jede Persönlichkeit ist. So lernen die Schüler sehr schnell, Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess und ihre Lebensgestaltung zu übernehmen.

Die Verantwortung für die Schulgemeinschaft fußt dabei auf der politischen Dimension der basisdemokratischen Mitgestaltung. Und die findet nicht nur auf einem kleinen, künstlich abgegrenzten Areal statt, sondern betrifft auch grundsätzliche Entscheidungen – etwa wie einzelne Aspekte des Schulalltags organisiert werden, z. B. Schulräume und ihr Nutzungsangebot, wie das monatliche Schulbudget eingesetzt wird, bis hin zu der Entscheidung, ob ein Lehrer zum nächsten Schuljahr weiterbeschäftigt wird.

Wechselnde Teams und Gruppen geben neue Kompetenzen

Verschiedene Gremien und Komitees, die wiederum von gewählten Schülern und Mitarbeitern gemeinsam besetzt sind, gestalten den Schulalltag mit. So sucht das „Lösungskomitee“ zusammen mit den Beteiligten nach einer Lösung für bestehende Konflikte, versucht auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen einzugehen und verhängt vorab festgelegte Konsequenzen bei Regelverstößen.

Forscher und Entdecker

Das Komitee „Einladen und Kennenlernen“ wiederum stellt Bewerbern (u.a. neue Schüler und Lehrer, Besucher der Schule) viele
Fragen und bringt sie in Verbindung mit dem Konzept der Schule, hört hin, um dann zu entscheiden, ob die Person und ihr Anliegen zur NSH passen oder nicht. Die wöchentliche „Schulversammlung“ ist das Gremium, in dem alle die Schulgemeinschaft betreffende Belange besprochen und entschieden werden. Jeder Schüler und Mitarbeiter hat die Möglichkeit, eigene Anträge einzubringen und jeder Schüler wie Mitarbeiter hat eine Stimme.

Die Teilnahme an der Versammlung ist keine Pflicht, man kann dann natürlich auch nicht abstimmen und mitentscheiden. Der gewählte Vorsitzende moderiert durch die Tagesordnung, es wird formalisiert und routiniert über die Anträge abgestimmt: Dafür? Dagegen? Enthaltungen? Die Ergebnisse werden sofort dokumentiert und erscheinen auf einer Leinwand. Für wichtige Abstimmungen braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Auch die Schließung der Rednerliste, so dass keine Diskussion in endlosem Für und Wider versandet. Eine Regelung, die man sich in manch langweiliger Sitzung in Unternehmen wünscht.

Dabei bleibt es nicht aus, dass auch Entscheidungen getroffen werden, die nicht alle Mitglieder der NSH gleichermaßen zufriedenstellt. Doch die Entscheidungen der Mehrheit werden akzeptiert, da vorher auf Augenhöhe kommuniziert, diskutiert und alle Perspektiven und Meinungen in ein für alle zufriedenstellendes Ergebnis eingebunden sind.

Lehrer sind Lernbegleiter, sind Impulsgeber

Für die Lehrer an der NSH war es am Anfang eher ungewohnt, ihre Entscheidungsmacht abzugeben. Aber ihr Selbstverständnis spielt eine große Rolle, denn sie unterstützen und begleiten die Schüler darin, frei zu lernen und Impulse anstatt Vorgaben zu geben. Egal ob die Schüler eine Frage oder eine Idee haben – sie nehmen die Schüler ernst, geben Antworten und helfen in der Umsetzung. Sie vernetzen mit anderen Schülern, um voneinander zu lernen. Egal, wie alt die Person, woher sie kommt oder welchen Hintergrund sie hat: So bringt ein sechsjähriger Schüler einem das Fahren mit dem Skatboard in der Halfpipe bei, während ein Fünfzehnjähriger anderen Schülern etwas über die aktuelle Politik erklärt. Regelmäßige Gespräche in Mentorengruppen und die Dokumentation des eigenen Lernstandes führen immer wieder dazu, die Schüler zum Lernen einzuladen, zu ermutigen und für Neues zu inspirieren.

So steht das Entdecken und Gestalten im Mittelpunkt und nicht einfach nur das Aneignen von Wissen. Und diese gleichberechtigte Beziehung auf Augenhöhe – ohne die allgemeine Hierarchie zwischen Lernenden und Lehrenden wie an staatlichen Schulen – fördert ein vertrauensvolles Verhältnis und einen respektvollen Umgang miteinander.

Es braucht eine bewusste Entscheidung

Kinder und Eltern sollten sich im Vorfeld gut informieren, um sich dann bewusst für diese Form von Schule zu entscheiden. Besuchertage, Probewochen und Gespräche an der NSH erleichtern die Entscheidung. Denn eines ist klar: Zu Hause ändert sich auch viel! Mit Neugierde, Eigeninitiative und freiheitlich demokratisch organisierten Prozessen umzugehen, muss man lernen. Es braucht Vertrauen und eine offene Erwartungshaltung gegenüber dem Lernprozess seiner Kinder. Denn vielleicht erwirbt das Kind bestimmte Fähigkeiten erst später als erwartet oder setzt sich andere Lernschwerpunkte.

Wenn sich dort, wo Lehrstellen, Studienplätze und Zukunftsperspektiven vergeben werden, herumgesprochen hat, wie selbstbewusst, kreativ und kompetent an sozialer und emotionaler Intelligenz die NSH-Schüler die Schule verlassen, dann bräuchte man sich um die Zukunft der Gesellschaft und von Unternehmen keine Sorgen zu machen.

Nun fragen Sie sich vielleicht gerade als Leser und Inhaber eines mittelständischen Unternehmens: was tun? Informieren Sie sich, treffen Sie eine Entscheidung und haben Sie den Mut (vielleicht wie damals als Sie Ihr Unternehmen gegründet haben) weiter zu denken, für die nächsten Generationen an Unternehmern und Mitarbeitern. Vielleicht haben Sie eine Produktidee, die Sie in der Prozessorganisation anders angehen werden als in den bisherigen Kernprozessen. Ein Unternehmen verträgt durchaus parallele, neue Unternehmenskulturen und Prozessorganisationen, die dann wiederum anziehend auf die anderen Geschäftsbereiche wirken. Wir sind 2004 zu viert (alles Nicht-Pädagogen) mit der Idee, wie wir Schule anders machen wollen und einem 10-seitigen Konzept gestartet. Ein Schüler schrieb dazu in seinem Abschlussdiplom: „Ich freue mich auf alle Aufgaben und Herausforderungen, die mir das Leben noch bieten wird und weiß, dass ich alles meistern kann und mich immer weiterentwickeln werde.“ Willkommen im Konzept der New Work.

Thomas Simmerl

Thomas Simmerl, Mitgründer der Neuen Schule Hamburg, Partner MARS Consulting Partnergesellschaft.

Bankkaufmann und Sparkassen-Betriebswirt, langjährige Vertriebs- und Führungserfahrungen, Referent an der Deutschen Sparkassenakademie, Bereichsleiter in einer Unternehmensberatung für Privat- und Auslandsbanken

Arbeitsschwerpunkte
Consulting: Flache Hierarchien, Strategisches HR-Management, Management-Development, Coaching und NETwicklung von Führungskräften, Führungs- und Vertriebstraining, Teamentwicklungen, Moderationen, Entwicklungsprozesse begleiten, Myers-Briggs Typenindikator® (INTP), Zürcher Ressourcen Modell (ZRM®)