Die Gesellschaft achtet erfolgreiche Menschen. Erfolgreich im Sinne der beruflichen Karriereleiter. Wer oben steht, hat es geschafft: Status, Gehalt, Ansehen. Was will man mehr?
Der Beruf war bisher Persönlichkeitsmerkmal Nummer Eins. Selbstgemacht oder von außen projiziert, entsteht das Bedürfnis, Idealen nachzueifern oder gar im ewigen Leistungswettstreit immer einen draufsetzen zu müssen. Der Titel, das Auto, die digitale Gefolgschaft, das Rednerhonorar, die Locations und Events, bei denen man gesehen werden muss. Hoher Leistungsdruck entsteht, der Fokus liegt auf der Außensicht und das Handeln wirkt oberflächlich und opportunistisch. Aber egal, die öffentliche Meinung sagt: Der oder die hat es geschafft.
Nun aber – in Zeiten des neuen Arbeitens – wird der Ruf laut nach mehr Substanz und Bedeutung im Arbeiten. Mitarbeiter wünschen sich Mitspracherecht und Teilhabe, Entscheidungsgewalt und Verantwortung, mehr Sinngebung durch die tägliche berufliche Arbeit, die sich bitte nicht mehr alternativlos anfühlen soll, sondern frei gewählt. Arbeit und Leben im Einklang – das ist das erstrebenswerte Ziel. Und zwar nicht im Sinne von Balance – auf der einen Seite dies und der anderen jenes – sondern im Sinne von Vermischung. Klare Grenzen werden aufgelöst: Die Idee ist es, Menschlichkeit zurück in den beruflichen Umgang zu bringen, private Dinge im kollegialen Raum zu teilen und Persönlichkeit zuzulassen. Das klingt positiv, birgt jedoch auch Gefahren.
So ist die arbeitende Bevölkerung jahrzehntelang danach verfahren, alles Individuelle am Werkstor abzugeben und sieht sich jetzt aufgefordert, Gegenteiliges zu tun?!
Es wird Wert auf die persönliche Meinung jedes Mitarbeiters gelegt. Für Menschen, die bisher keine Überzeugungen kundtun mussten, kann dieser Change extrem belastend sein. Jetzt muss man eine eigene Meinung formen, sich bekennen, sich outen mit Wortmeldungen, die einem später Kopf und Kragen kosten können. Schlimmer noch: Nicht nur nach Meinung, sondern gar nach eigenen Ideen und Vorschlägen wird gefragt. Und um alles Bisherige zu toppen: Selbst auf die erlernten Arbeitsweisen ist kein Verlass mehr. Es werden neue, hippe, experimentelle Methoden mit Filzstiften, Knetmasse und Haftnotizen vorgestellt. Ganz „ergebnisoffen“ und „kollaborativ“ – das klingelt im Ohr des „old workers“. Das wohlig vertraute, sicherheitversprechende Revier aus Gleichgültigkeit, Frustration oder je nach Stadium Lethargie soll gegen eine fröhliche Spielwiese getauscht werden. Alles bunt, alles neu, alles mit Spaß!
Muss das sein?
Nicht jeder möchte spielen. Viele haben das Spielen verlernt oder scheuen aus Furcht vor Repressalien das freie Spiel. Anderen ist wiederum das Spielfeld auch einfach zu groß geworden. Arbeit und Leben sind nicht mehr klar zu trennen; die Grenzen verschwimmen. Denn ein Arbeitnehmer, der sich mit dem Unternehmen identifiziert und Sinn und Bedeutung im beruflichen Handeln erkennt, erreicht nur noch schwierig ein Gefühl von mentaler Ruhe und Entspannung. Man kann nicht mehr abschalten – es gibt keinen „Off-Modus“ mehr. Wenn sich hoher Leistungsdruck und zu viel Freiheit vermischen, können genauso wie im alten hierarchischen Command and Control System Angstzustände und Überlastung entstehen, die krank machen. Depression, Erschöpfung, Ermüdung und Burn Out sind mittlerweile weitverbreitete Zivilisationskrankheiten. Rund vier Millionen Deutsche sind depressiv, und Studien belegen, dass der Beruf massiven Einfluss darauf hat.
Erschreckende Warnsignale
Das sind erschreckende Warnsignale, die auch wahrgenommen werden. Trotzdem gibt es keinen Hebel, den man schnell umlegt, und dann funktioniert alles besser. Viele Mitarbeiter müssen erst wieder von anderen Leitsätzen im Unternehmen überzeugt werden, um umdenken zu können. Dazu sind Verhaltenscodices, Vertrauen und Dialog untereinander wichtige Bausteine einer konstruktiven Unternehmenskultur.
Auch das Thema Fehlerkultur ist essentiell, wenn man Mitarbeiter bestärkt und mündig auf dem Weg des Wandels mitnehmen möchte. Galt es vorher, möglichst keine Fehler zu machen, propagieren nun kollegiale Vorgesetzte sehr bemüht, dass alle aus Fehlern lernen können, dass Experimentieren auf einem Lösungsweg wertvolle Erkenntnisse stiftet und dass selbst das Scheitern gescheit ist. Auf einmal gilt: Agiles Arbeiten statt des leanen linearen Workflows, der jahrzehntelang optimiert wurde. Und noch besser: Alle dürfen gleichberechtigt mitbestimmen, wer Chef ist. Es gewinnt nicht mehr derjenige, der die beste Ausbildung, die meisten Urkunden und die dicksten Etats hat, sondern demokratische Prozesse vermitteln Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Das ist ganz schön viel Sinneswandel auf einmal. Eine gewisse Orientierungslosigkeit beim Empfänger verwundert da nicht wirklich, oder?
Orientierungslos im Freiraum
Und der Wandel wird noch fundamentalere Auswirkungen mit sich bringen. Die Bewertungskriterien für Erfolg und Leistung müssen überdacht werden. Denn was passiert mit den vermeintlich Geadelten der Gesellschaft, wenn das Gefüge wackelt. Berufe verschwinden, Branchen brechen weg und dann? Was machen der Top-Versicherungsmakler, der highend-Architekt oder der erfolgreiche Jurist, wenn Watson und Co. ihre Stellung einnehmen und mokant lächeln? Digitale Services werden Menschen ganz viel Arbeit abnehmen.
Tiefe Identitätskrise
Was sich im ersten Moment wie ein gefälliger Nutzen anhört, wird wahrscheinlich tiefe Identitätskrisen hervorrufen. Denn der Wert der Ausbildung oder des akademischen Grads, Qualifikation und Eignung sind passé, wenn die Maschine in Sekundenschnelle mit jeglicher Form von Wissen betankbar ist. Zählt dann noch in der Betrachtung eines Mitarbeiters die Betriebszugehörigkeit? Können Berufserfahrung oder alle mitmenschlichen Dienste im Unternehmen noch irgendetwas rausreißen? Nur schwerlich, denn zu allem Übel laufen automatisierte Prozesse effektiver, krisensicherer, zuverlässiger und schneller.
Eine weitere Herausforderung wird der Umgang mit der gewonnenen Freizeit sein. Was macht der sonst so gestresste Manager mit Zeit, die plötzlich nicht durch klassische Arbeitsaufgaben gefüllt ist? Ob dieser Mensch noch Alternativen kennt, ist fraglich. Hoffentlich bleiben nicht nur schwarze Löcher mit tiefen Abgründen – Bore Out statt Burn Out. Dem Ex-40-Stunden-Plus-Workaholic sei es zu wünschen, dass er Pläne in der Rückhand hat, die ihn retten. Vielleicht Träume, die man in die Rentenzeit verschoben hat. Hoffentlich kann der entlastete Arbeitnehmer seine Freizeitkontingente schnell sinnvoll ausfüllen und zufriedenstellend für sich nutzen. Beim Müßiggang, bei Hobbies, mit der Familie, vielleicht im sozialen Bereich oder im Ehrenamt?
Was tun? Was bleibt?
Als Leitplanken im Wirrwarr der Dos und Donts hilft eine Unternehmenskultur, in der Freiraum für das Individuum ein zentraler Wert ist. Jeder Arbeitnehmer sollte die Möglichkeit haben, sich einbringen zu können – aber nicht bis zur Selbstaufgabe. Meinungen sollten geäußert werden – aber nicht als Bedingung. Neue Methoden und Arbeitsinstrumente sollten angeboten werden – aber nicht Pflicht sein. Agilität in Arbeitsprozessen sollte Einzug halten – aber nicht wahllos. Worauf es hinausläuft: Das gesunde Maß oder – und das ist doch bezeichnend – den gesunden MENSCHENverstand.
Der Mensch im Fokus