Totgesagt und quicklebendig

Wie ein analoges Medium im digitalen Zeitgeist sein Comeback feiert

Na, haben Sie Ihre digitale Transformation schon hinter sich? Treffen Ihre Freunde nur noch in der Virtual Reality, sammeln Selfie-Likes, lassen sich im Hyperspace vom netten Netdoktor behandeln, checken ständig Ihr Smartphone und streamen wie von Sinnen Filme und Musik? Dann hat Sie die digitale Krankheit voll erwischt.

Immer weniger Zeit, immer mehr Stress, immer weniger persönliche Kontakte, immer mehr Bequemlichkeit und Angst, irgendetwas zu verpassen. Das sind die Symptome. Doch es gibt Hoffnung. Die gute Nachricht ist: Sie sind erstens nicht allein und können sich zweitens auch wieder entdigitalisieren und in den „Normalzustand“ zurückversetzen.

Ein Mittel, das hier am besten hilft, ist Polyvinylchlorid, besser bekannt unter der Bezeichnung: Vinyl. Ein mystischer Stoff, rezeptfrei, jedoch nicht frei von Nebenwirkungen: denn Vinyl macht schnell süchtig. Nicht nur DJs können ein Lied davon singen – auch bei anderen erfreut sich die Schallplatte immer größerer Beliebtheit – inzwischen entdecken selbst Menschen dieses Medium für sich, die noch gar nicht auf der Welt waren, als es von eben jener verschwand – und mit der Compact Disk ein digitaler Datenträger seinen Siegeszug antrat.

Von der Nische zum Hipster

Heute ist die Schallplatte der einzige physische Tonträger, dessen Verkaufszahlen wachsen. Und wie. Die Umsatzzahlen drehen sich immer schneller. Waren es 2007 noch 8 Millionen €, so stiegt die Zahl fünf Jahre später schon auf 19 Millionen € – und im Jahr 2013 auf satte 29 Millionen Euro! Verrückt.

Von der Nische zum Hipster. Back to the roots. Und zurück auf den Plattenteller. Totgesagte leben eben länger. Bei dieser Euphorie kommen die Presswerke mit der Produktion kaum noch hinterher. Die Maschinen laufen auf Hochtouren – es sind übrigens dieselben wie damals. Neue? Nur schwer aufzutreiben und kaum zu bezahlen. Dabei lassen nicht nur alte Scheiben Vinyl boomen, sondern auch immer mehr Erstpressungen, wie die neusten Alben von David Bowie oder Jack White. Abgesehen vom klassischen Bereich, wo die Platte schon immer ein
Nischendasein in der Nische fristete, läuft sie in allen Genres.

Doch was steckt hinter diesem (vermeintlich) anachronistischen Phänomen?

Warum lieben Menschen die Platte – trotz der Möglichkeiten, die ihnen die digitale Welt im Überfluss bietet?
Vielleicht ist es die Rückbesinnung auf das, was wirklich zählt. Je mehr die Welt digitaler und weniger greifbarer wird, desto mehr sehnen wir uns nach etwas, das wir festhalten können. Reale Dinge, die ein Gegenmodell zum Virtuellen anbieten. Jeder erinnert sich noch an seine erste Schallplatte. Aber was war noch gleich die erste mp3? Einsen und Nullen kann man nicht greifen, sie existieren nur virtuell, sind hör- aber nicht fühlbar. Darum berühren sie uns auch nicht. Bei einer Platte ist das anders. Man sieht ihr die Musik förmlich an, sie steckt in der Rille als Abbild der Schallwellen und ermöglicht taktile Sinneserfahrungen, die wir so lieben. Dieses Knistern der Nadel, der warme, satte Klang … Das erzeugt Gänsehaut.

Und so langsam dämmert es, dass Musik viel mehr ist, als eine reine Information. Es ist ein Gesamtkunstwerk. Mit einem Cover, das oft von namhaften Künstlern oder Fotografen gestaltet ist, mit Texten und Informationen, die uns in die Welt der Musiker entführen und eintauchen lassen.
Hier wird Musik zelebriert, nicht konsumiert. Man kann sich nicht schnell durchklicken, durchprobieren oder sich nebenbei satt hören. Vinyl muss man sorgsam auf den Teller legen, wie ein zehngängiges Menü bewusst genießen. Das macht glücklich. Vielleicht weil wir dabei spüren, dass Musik Seele hat.

Einsen und Nullen kann man nicht greifen…

In einer Welt, die immer schneller immer mehr Lebensbereiche digitalisiert, drückt die Schallplatte die Sehnsucht nach Entschleunigung aus. So ist der Rückgriff auf das analoge Medium auch als Gegentrend zum unaufhaltsamen Digitalisierungswahn und Internettrend zu verstehen.

Bei Vinyl geht es eben nicht um Bequemlichkeit, Effizienz und Überfluss. Es stellt die ursprüngliche Bedeutung wieder her, einen kulturellen Wert zu sammeln. Und schafft einen Kommunikationsanlass, sich zu unterhalten, auszutauschen und zu fachsimpeln. Im Plattenladen zum Beispiel oder auf der Plattenbörse beim Durchstöbern der Boxen. Über die eigene Plattensammlung im Schrank, die viel über das eigene Ich aussagt. Schallplatten müssen gesucht und gefunden werden. Sie sind nicht einfach und schnell zu haben. Auch das macht die schwarzen Scheiben zu etwas Wertvollem und entschleunigt.

Nehmen Sie sich die Zeit.
Es lohnt sich … wieder.