Von Milieus und Regionen zu Innovationen?

Innovationsfähigkeit im demografischen Wandel

Peter Martin Thomas ist Leiter der SINUS:akademie, Jugendforscher und Coach. Aktuell befasst er sich vor allem mit der Frage, wie kleine und mittlere Betriebe zu den passenden Nachwuchskräften kommen. Doreen Richter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Flensburg. Sie hat an einem soeben abgeschlossenen Forschungsprojekt zur Innovationsfähigkeit im demografischen Wandel gearbeitet.

 

Frau Richter, kann man die Innovationsaktivität in einer Region messen?

Doreen Richter: Die tatsächliche Innovationsaktivität einer Region zu messen ist schwierig. Der Begriff Innovationsaktivität ist sehr abstrakt und kann vielseitig interpretiert werden. Daher gibt es verschiedene Ansätze, die Innovationsaktivität oder auch Innovationsfähigkeit zu erfassen.

In den Wirtschaftswissenschaften ist die Messung der Innovationsaktivität über Patentanmeldungen am gängigsten. Aber auch Unternehmensgründungen im Technologiesektor, insbesondere sogenannte Spin-Offs und technologiebasierte Start-Ups sind ein guter Indikator für eine rege Innovationstätigkeit. Darüber hinaus werden auch die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Forschung und Entwicklung sowie die Ausgaben für Forschung und Entwicklung als Anzeiger für Innovationstätigkeit eingesetzt.
Jeder dieser Indikatoren hat seine Vor- und Nachteile, daher muss im Sinne des Erkenntnisinteresses geprüft werden, mit welchem man zu den treffendsten Aussagen gelangt. Patentanmeldungen beispielsweise können aus unterschiedlichen Gründen das Bild der regionalen Innovationstätigkeit auch stark verzerren.

Zum einen werden Patente nicht immer dort angemeldet, wo sie auch entwickelt wurden. Das heißt, dass die Forschung in einer Zweigniederlassung umgesetzt wird, die Anmeldung aber immer über den Hauptsitz des Unternehmens, des Instituts oder der Forschungseinrichtung erfolgt. Zum anderen werden Patente nicht nur zu dem Zweck angemeldet, Innovationen zu schützen. Hinter einer Patentanmeldung können sich auch ganz andere Motivationen verbergen, zum Beispiel als Blockade, Druckmittel in Verhandlungen oder zur Verhinderung von Klagen. Das bedeutet, dass nicht jedes angemeldete Patent in ein kommerzialisiertes Produkt überführt wird, was aber Teil der Definition einer Innovation wäre.

Weiterhin werden durch Patente nicht alle Arten von Innovationen erfasst, da beispielsweise Dienstleistungen oder bestimmte Softwarelösungen nicht geschützt werden können. Nicht nur daher kommen auch oft einfach andere Schutzrechte zum Einsatz. Trotzdem und trotz einiger weiterer Nachteile sind Patentanmeldungen ein relativ objektiver, zuverlässiger und rein pragmatisch eben auch auf regionaler Ebene verfügbarer Indikator. Denn die Messung der Innovationsfähigkeit einer Region ist theoretisch vielfältig möglich und scheitert in der Praxis meist an der Verfügbarkeit entsprechender Daten.

Sie haben mitgewirkt am Forschungsvorhaben „Innografie – Innovationsfähigkeit im Demografischen Wandel“. Um was ging es dabei?

Doreen Richter: Das Verbundvorhaben „Innografie – Innovationsfähigkeit im Demografischen Wandel“ war ein Forschungsprojekt, welches von Mai 2012 bis April 2015 durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) für Deutschland, der Europäischen Union (EU) sowie das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde. Es war eingebettet in das Forschungsprogramm „Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt“ des BMBF.

Es arbeiteten drei Universitäten mit jeweils eigenem Schwerpunkt in einem Verbund zusammen, um einen interdisziplinäreren Untersuchungsrahmen zu schaffen. Wir haben gemeinsam darauf hin gearbeitet, ein Analyseinstrument zu entwickeln und zu testen, das systematisch Bedingungen betrieblicher Innovationstätigkeit in Organisationen erfasst. Unser Ziel war es, ein Online-Tool zur Verfügung zu stellen, das einerseits branchenübergreifend und andererseits in Organisationen unterschiedlicher Größe einsetzbar ist. Die unterschiedlichen Betrachtungsebenen der Projektpartner dienten dazu, den künftigen Anwendern ein umfassendes Bild über die innovationsrelevanten Faktoren regionaler und organisationaler Innovativität sowie möglicher Interventionen auf Mitarbeiterebene zu vermitteln.

Herr Thomas, Sie arbeiten mit den Sinus-Milieus, um Zielgruppen für das Personalmarketing zu beschreiben. Was sind Sinus-Milieus?

Peter Martin Thomas: Vereinfacht könnte man sagen, die Sinus-Milieus sind Gruppen Gleichgesinnter mit ähnlichen Werten, Lebensstilen, Alltagsästhetik. Die Sinus-Milieus gruppieren also Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Grundlegende Wertorientierungen werden bei der Analyse ebenso berücksichtigt wie Alltagseinstellungen zur Arbeit, zur Familie, zur Freizeit, zu Geld oder Konsum.

”Die Sinus-Milieus gruppieren Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln.“

Die Grenzen zwischen den Milieus sind natürlich fließend. Zwischen Lebenswelten kann man nicht so klare Grenzen ziehen wie bei soziale Schichten. Die Wirklichkeit hat sozusagen eine „Unschärfe“ gegenüber dem Modell. Zum Verständnis der Milieus ist es wichtig, sich klar zu machen, dass es Berührungspunkte und Übergänge zwischen den einzelnen Milieus gibt.

Die Sinus-Milieus gibt es nun seit den 80er-Jahren. Sie wurden immer wieder weiterentwickelt. Der letzte Update hat 2010 stattgefunden. Aktuell werden 10 Milieus beschrieben, die die Bevölkerung in Deutschland ab 14 Jahren beschreiben.

In der Vergangenheit wurden die Sinus-Milieus vielfach für die Produktentwicklung, die Kommunikation und das strategische Marketing eingesetzt. Vor dem Hintergrund des drohenden Fachkräftemangels und des demografischen Wandels entdecken in letzter Zeit immer mehr Unternehmen das Potenzial der Milieus für das Personalmarketing und Employer Branding.

Gibt es Milieus, die sich besonders gerne auf Innovationen einlassen?

Peter Martin Thomas: Es gibt zumindest Milieus, die besonders aufgeschlossen sind gegenüber neuen Entwicklungen, die interessiert sind an technischen und Konsum-Innovationen und eine Unternehmer-Mentalität zeigen.

Die Aufgeschlossenheit für neue Entwicklungen ist beispielsweise bei dem jüngsten Milieu, den Expeditiven, besonders hoch. Danach kommen mit einigem Abstand die Performer. Beides sind Milieus, die ihren Schwerpunkt in höherer sozialer Lage haben. Am geringsten ist die Aufgeschlossenheit für neue Entwicklungen beim ältesten Milieu, den Traditionellen und im Prekären Milieu. Auch beim Interesse an neuen Produkten zeigt sich das gleiche Bild. Das größte Interesse zeigen Expeditive und Performer. Das geringste Interesse haben die Traditionellen.

Bei beiden Themen sind es die Jüngeren im Alter von 14-24 Jahren, die deutlich mehr Aufgeschlossenheit und Interesse zeigen als die Älteren über 50 Jahren.

Frau Richter, wenn es diese Milieus gibt, dann muss man doch nur die entsprechenden Menschen in die Unternehmen bzw. in die Region holen und steigert damit die Innovationsfähigkeit?

Doreen Richter: Zumindest haben diese Milieus einen sehr positiven Einfluss auf die Innovationsaktivität in der Region. Darüber hinaus können aber auch andere Faktoren auf die regionale Innovationsfähigkeit einwirken. Wir haben im Rahmen von Innografie drei Dimensionen getestet. Welchen Einfluss hat die Anzahl der hochqualifizierten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in einer Region; wie wirkt die zunehmende Diversität der regionalen Bevölkerung im Sinne von Personen mit Migrationshintergrund aus; und können bestimmte soziale Milieus die regionale Innovationsaktivität fördern!?

Doreen Richter
Doreen Richter

„Innografie – Innovationsfähigkeit im Demografischen Wandel“

ist ein Verbundvorhaben zwischen der Universität Hamburg (Leitung Prof. Dr. Eva Bamberg), der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg (Leitung Prof. Dr. Wenzel Matiaske) und der Europa-Universität Flensburg (Leitung Prof. Dr. Gerd Grözinger).

Es war eingebettet in das Forschungsprogramm „Arbeiten – Lernen – Kompetenzen entwickeln. Innovationsfähigkeit in einer modernen Arbeitswelt“ des BMBF. Das Ziel des Verbundprojekts bestand in der Förderung der Innovationsfähigkeit von Organisationen im demografischen Wandel und der Entwicklung und Validierung eines Analyseinstruments zur Messung von Innovationspotenzialen. Im Wesentlichen werden drei Ebenen berücksichtigt, die sich in den drei Teilvorhaben des Projekts widerspiegeln: die individuelle und arbeitsplatzbezogene Ebene (Universität Hamburg), die betriebliche Ebene (Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg) und die regionale Ebene (Europa-Universität Flensburg). Unter Einbezug der Erkenntnisse aus den beteiligten Wissenschaftsdisziplinen (Psychologie, Betriebswirtschaft, Soziologie, Volkswirtschaft) entwickelt und validiert der Verbund ein Online-Analyseinstrument zur Messung von Innovationspotenzialen.

Zudem werden die Praktikabilität des Instruments und das Kosten-Nutzen-Verhältnis hinsichtlich einer demografie- sowie innovationsorientierten Unternehmensstrategie überprüft. Ein Praxisleitfaden unterstützt die Anwendung des Analyseinstruments und die Ableitung von Maßnahmen in Organisationen.

”Die Milieus haben einen sehr positiven Einfluss auf die Innovationsaktivität in der Region.“

Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich alle drei Aspekte deutlich positiv auswirken. Es konnte aber noch nicht abschließend geklärt werden, ob die, im Verhältnis zu anderen Regionen gesteigerte, Innovationsleistung bestimmte Regionen durch eine höhere Anzahl von Menschen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe erklärt werden kann oder ob diese Bevölkerungsgruppe beziehungsweise dieses Milieu dazu neigt, dorthin abzuwandern, wo vermehrt Innovationstätigkeit verzeichnet wird. Zu diesem Zweck müssten noch weitere Forschungen vorgenommen werden, die eine zeitliche Entwicklung in den Untersuchungsrahmen einbeziehen. Jenes war uns bisher nicht möglich.

Herr Thomas, über welche Milieus reden wir, wenn wir von den innovationsbereiten Milieus sprechen?

Peter Martin Thomas: Wenn wir über die gleichzeitige Offenheit für Neues und die Risikobereitschaft sprechen, sind es vor allem die Expeditiven und Performer. Aus der Untersuchung von Frau Richter wissen wir aber, dass auch die Liberal-Intellektuellen und die Konservativ-Etablierten viel zur Innovationsaktivität in der Region beitragen. Im Gegensatz zu den von mir zuerst erwähnten Zahlen, scheint die Innovationsbereitschaft also nicht unbedingt eine Frage des Alters zu sein. Die Konservativ-Etablierten sind im Durchschnitt 51 Jahre alt, die Liberal-Intellektuellen sind durchschnittlich 46 Jahre. Das ist ein großer Altersunterschied zu den Expeditiven, die ein Durchschnittsalter von 29 Jahren haben.

Hat Innovation dann doch gar nichts mit dem demografischen Wandel und einer älter werdenden Gesellschaft zu tun?

Doreen Richter: Die Untersuchungsergebnisse des Verbundprojektes haben auf allen drei Eben gezeigt, dass das Alter an sich keine Rolle für die Innovationsfähigkeit der Regionen spielt. Damit wollen wir aber nicht zum Ausdruck bringen, dass Innovation nichts mit dem demografischen Wandel und einer älter werdenden Gesellschaft zu tun hat. Wir gehen davon aus, dass ein indirekter Zusammenhang zwischen Alter und Innovativität besteht.

Bei der Personalauswahl beispielsweise sind die Organisationen stark auf jüngere Beschäftigte ausgerichtet. Jenes trifft auch auf Maßnahmen der Personalentwicklung zu. Außerdem unterscheidet sich, wie sich gezeigt hat, Führung gegenüber Älteren teilweise von Führung gegenüber Jüngeren.

”Stärken und Kompetenzen von Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten nutzen.“

Daraus kann die Gefahr erwachsen, dass ältere Beschäftigte hinsichtlich innovationsförderlicher Arbeits- und Führungsbedingungen systematisch benachteiligt werden. Das bedeutet, dass die Beteiligung von Älteren an Personalentwicklung und an innovationsförderlichen Maßnahmen gezielt zu fördern sind.

Zusätzlich möchte ich anfügen, dass das Altern der Gesellschaft ja nur einen Aspekt des demografischen Wandels darstellt. Zu den Auswirkungen dessen gehört auch, dass der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in den Organisationsbelegschaften zunimmt, da Wanderungsbewegungen an Bedeutung gelangen und auch das Verhältnis weiblicher Arbeitskräfte steigt. Damit meine ich, dass die Unternehmensbelegschaften allgemein heterogener, also diverser in ihrer Zusammensetzung werden und sich hieraus ganz neue Herausforderungen für die Förderung der Innovationsaktivität ergeben.

Peter Martin Thomas: Ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können viel mit ihrer Arbeits- und Lebenserfahrung arbeiten. Die Jüngeren entwickeln eventuell ungewöhnlichere Ideen. Die Ideen der Älteren sind hingegen mit gewisser Wahrscheinlichkeit leichter in die Praxis umzusetzen, da die Machbarkeit gleich mitgedacht wurde.

Je nach Alter und Milieu haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darüber hinaus sicher andere Felder für innovative Produkte und Dienstleistungen im Blick. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels gibt es ständig einen hohen Bedarf an Innovationen, die sich im Alltag der älteren Menschen positiv bemerkbar machen. Menschen mit mehr Lebenserfahrung können die relevanten Fragen und Herausforderungen eher im Blick haben als jüngere Menschen. Sicher wird auch nicht jede technische Innovation, die Expeditive und Performer begeistert, von Menschen aus anderen Lebenswelten als Bereicherung für ihren Alltag erlebt. Wenn es dann um die Frage geht, welche Produkte und Dienstleistungen für die jungen Zielgruppen eine interessante Neuerung wären, sind wiederum eher die Mitarbeiter aus den jungen Milieus vorne.

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Wäre es dann das Beste, aus allen vier Milieus Mitarbeiter zu haben?

Peter Martin Thomas: Es spricht viel dafür, in einem Unternehmen die Stärken und Kompetenzen von Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten zu nutzen. Vor dem Hintergrund unserer Milieuforschung wäre es bei einer Mischung der Milieus in jedem Fall notwendig, sich gut zu überlegen, wie man Menschen mit unterschiedlichen Lebensstilen, Werten, Lebenszielen und ästhetischen Präferenzen gut in den Dialog bringt. Wenn man sie ohne Vorbereitung und Moderation einfach in einen Raum setzt, wird das sicher nicht so kreativ und innovativ. Wie bereits angesprochen ist es dann eine Frage der Führung bzw. der Moderation, eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, in der gemeinsame Innovationsprozesse möglich werden.

Aus meiner Erfahrung muss man manchmal regelrecht „Übersetzungsarbeit“ zwischen den Menschen aus verschiedenen Lebenswelten leisten. Für einen an Veränderung interessierten Expeditiven sind die Bewertungskriterien für neue Ideen eines Konservativen nicht auf Anhieb nachvollziehbar – weder sprachlich noch inhaltlich. Umgekehrt neigen jüngere Menschen vielleicht zu einem technologischen oder stark von englischen Begriffen durchsetzen Sprachstil, der die älteren Kollegen aus anderen Lebenswelten irrititiert. Frau Richter weiß sicher noch mehr zum Thema Vielfalt und Innovation.

Doreen Richter: Vielfalt bzw. Diversität setzt genau die von Ihnen erwähnten Regeln und regulativen Rahmen voraus, wenn daraus positive Effekte entstehen sollen.

Forschungen haben gezeigt, dass auch gesellschaftliche Integration und geteilte Normen eine wichtige Voraussetzung sind. Außerdem geht man davon aus, dass bei dem Verhältnis von Vielfalt und Innovation von einem umgedrehten „U“ zu sprechen ist. Damit möchte ich sagen, dass Diversität bis zu einem gewissen Punkt Vorteile bringen kann. Wenn die Heterogenität dann ein bestimmtes Level überschreitet und die negativen Folgen und auch Kosten für die Organisationen, die zum Beispiel aus einer erhöhten Kündigungsneigung entstehen, weil sich die Mitarbeiter nicht mehr wohl fühlen, größer werden als die Vorteile, dann sinken die positiven Erträge der Vielfalt entsprechend.

In diesem Zusammenhang gibt es aber nicht den einen Diversitätsgrad oder den einen Wendepunkt, der für alle Organisationen gilt, so viel sei gleich vorweg gesagt. Dieser hängt immer auch von der Organisationskultur, der Personalentwicklung, dem Führungsverhalten, den Arbeitsbedingungen und weiteren Aspekten in den einzelnen Organisationen ab.

Was würden Sie vor diesem Hintergrund tun, Herr Thomas, um die verschiedenen innovationsbereiten Milieus für ein Unternehmen zu gewinnen?

Peter Martin Thomas: In jedem Fall würde ich sehr zielgruppenspezifisch vorgehen. Für welche Werte steht unser Unternehmen? Welche sind die gemeinsamen Normen, die Frau Richter gerade erwähnt hat, auf deren Basis wir zusammenarbeiten? Welche Menschen suchen wir für dieses Unternehmen? Was erwarten diese von der Arbeit, dem Arbeitgeber und dem regionalen Umfeld? Auf welchen Kanälen kann ich sie ansprechen?

Gerade die Expeditiven wissen sehr genau, was sie wollen und was sie nicht wollen. Aber auch in den anderen innovationsbereiten Milieus können es sich die hochqualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten, bei der Entscheidung für einen Arbeitgeber wählerisch zu sein. Deswegen wird man sie mit breit angelegten Allerwelts-Kampagnen nicht erreichen. Man muss sie sehr konkret ansprechen. Auch das Personalmarketing darf innovativ sein. Die Führungskultur, die Formen der Zusammenarbeit und die sonstigen Rahmenbedingungen im Betrieb müssen sogar innovativ sein, wenn das Unternehmen nicht gerade am attraktivsten Standort angesiedelt ist, sehr populäre Produkte und eine hohe Bekanntheit hat.

Haben Sie in Ihrem Forschungsbericht auch Empfehlungen formuliert, Frau Richter?

Doreen Richter: Ja, das haben wir. Zur positiven Beeinflussung von Innovationsprozessen sind vor allem hochqualifizierte MitarbeiterInnen; die Nutzung der vorhandenen kulturellen Vielfalt; sowie eine Gesellschaft wichtig, die aufstiegsoffen ist zur Teilhabe an ‚innovationsaffinen Milieus‘ und eine Beschäftigtenauswahl, die Wert auf die Einbindung solcher Milieus legt.

Den dritten Aspekt hatte Herr Thomas ja bereits beschrieben. Daher sollte die Bildungsförderung im hochschulischen Bereich ein Schwerpunkt sein. Hochschulen sind unter anderem für die Expeditiven wichtig, um ihnen ein interessantes Lebensumfeld zu bieten. Insgesamt sollte in Firmen aber bei Weiterbildungsangeboten und anderen Maßnahmen auf milieuspezifische Bedingungen geachtet werden. Um wiederum kulturelle Vielfalt nutzen zu können, ist die offensive Förderung von Offenheit für kulturelle Vielfalt zwingend notwendig.

Peter Martin Thomas: Nun muss man grundsätzlich zur Kenntnis nehmen, dass junge, leistungsorientierte Milieus eher urbane Standorte bevorzugen. Man kann sie aber sicher gewinnen, wenn man sich auch auf eine projektorientierte Zusammenarbeit mit ihnen einlässt. Sie möchten vielleicht gar nicht unbedingt einen unbefristeten Vertrag mit allen Regularien, sondern suchen eher die Herausforderung in einem interessanten, zeitlich überschaubaren Projekt.

”Ausgangspunkt eines innovativen, punktgenauen Personalmarketings ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Unternehmenskultur, den Werten im Unternehmen, der Tradition und der Vision für die Zukunft!“

Außerdem dürften die Attraktivität und Anziehungskraft einer Region auch mit der Innovationsfähigkeit der Unternehmen wachsen. Deswegen gehören Regionalmarketing und das Personalmarketing der einzelnen Betriebe gut miteinander koordiniert. Wie soll es gelingen, junge, innovationsfreudige Mitarbeiter für ein Unternehmen zu gewinnen, wenn gleichzeitig die Region nur mit ihrer schönen Landschaft, der Heimatverbundenheit und traditionellen Werten wirbt?

Kann man also zusammenfassend sagen, dass die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens sowohl von der gelungenen Regionalentwicklung als auch von einem modernen HR Management abhängig ist?

Doreen Richter: Ja, das kann man so sagen. Innovative Unternehmen brauchen die räumliche Nähe anderer innovativer Unternehmen, denn Innovationen sind in der Regel keine organisationale Einzelleistung.

Sie entstehen auch aus dem Vorhandensein von implizitem Wissen, dass sich über so genannte Wissens-Spillover, also die informelle Übertragung von Wissen unter anderem durch persönliche Kontakte zwischen den Unternehmen, Hochschulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen, staatlichen Instituten wie den Arbeitsagenturen und Industrie- und Handelskammern sowie weiteren regionalen Akteuren ausbreitet. Wenn es gelingt, auf diese Weise ein innovatives Milieu zu schaffen, können Regionen zum Anziehungspunkt für weitere Unternehmen werden.

Peter Martin Thomas: Das sehe ich genauso. Heute bewerben sich die Unternehmen um die besten Köpfe und nicht mehr umgekehrt. Das Wissen über die Grundeinstellungen zu Arbeit, Familie, Zukunft u. ä. in verschiedenen Milieus und Lebenswelten kann viel dazu beitragen, die richtige Zielgruppe für das eigene Unternehmen anzusprechen. Nach meiner Einschätzung sind innovative Unternehmen auch bei der genauen Ansprache der gewünschten Mitarbeiter innovativ und verlassen ausgetretene Pfade.

Dabei geht es nicht darum, sich an die gewünschten Zielgruppen anzubiedern oder gar Dinge zu versprechen, die sich nicht realisieren lassen. Ganz im Gegenteil: Ausgangspunkt eines innovativen, punktgenauen Personalmarketings ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Unternehmenskultur, den Werten im Unternehmen, der Tradition und der Vision für die Zukunft.

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