Neue Rollenverteilung in der Industrie

Hightech-Strategie 4.0

Das Schlagwort von der „Industrie 4.0“ geistert seit Jahren durch die Öffentlichkeit. Nach der Dampfmaschine, dem Fließband und der Elektronik soll nun die Vernetzung die nächste industrielle Revolution einleiten. Was sich ändern wird und wohin die Reise geht, das weiß niemand sicher. Denn wie es mit derartigen Umstürzen so ist, lässt sich meist erst viel später sagen, was sie tatsächlich hervorgebracht haben. Manche macht das unsicher, andere zuversichtlich. Für alle gilt, dass sie einen epochalen Wandel miterleben, vielleicht sogar mitgestalten können. Und das ist eine große Chance.

Vorbilder aus der Bionik

Kleine Krabbeltiere waren auf der diesjährigen Hannover Messe die großen Stars. Das schwäbische Unternehmen Festo stellte auf Deutschlands wichtigster Industriemesse seine Roboter-Ameisen vor, die „BionicANTs“. Ihre filigrane Anatomie ist überzogen mit goldenen Leiterbahnen und Mikroprozessoren. Mit einem Kamera-System im Kopf und Sensoren am Körper scannen sie ihre Umgebung und tauschen Informationen per Funk untereinander aus. Wenn es darum geht, ein Hindernis aus dem Weg zu räumen, arrangieren sie sich zu einem Team und lösen diese Aufgabe im Kollektiv. Auf beeindruckende Weise zeigen die handgroßen Hightech-Geschöpfe, wie autonome Einzelkomponenten als vernetztes Gesamtsystem eine komplexe Aufgabe intelligent lösen können.

 

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Bei der Umsetzung der „Industrie 4.0“ erhält die Bundesregierung die Unterstützung von den Branchenorganisationen Bitkom (IT), ZVEI (Elektrontechnik) und VDMA (Maschinenbau). Eine aktuelle Studie des Branchenverbands BITKOM prognostiziert für Deutschland bis 2025 eine Wertschöpfungssteigerung um knapp 80 Milliarden Euro auf dem Weg zur Industrie 4.0.

 

Schlaue Maschinen und Roboterkollegen

Gleicher Ort, vier Jahre zuvor. Im April 2011 stellte die Bundesregierung zur Eröffnung der Hannover Messe erstmals ihre Hightech-Strategie „Industrie 4.0“ einer breiten Öffentlichkeit vor. Ihr Ziel war und ist bis heute, die Wissenschaft und Wirtschaft auszurichten auf eine Zukunft, die eine starke Individualisierung der Produkte und eine enorm flexible Produktion erwarten lässt. Neue Konzepte sollten ermöglichen, Kunden und Geschäftspartner unmittelbar in Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse einzubinden. Hochvernetzte Strukturen sollen sämtliche Daten auswerten und für neue Dienstleistungen, optimierte Abläufe sowie zur Kostenersparnis nutzen. Aus der vertrauten Fabrik, so die Kernbotschaft des angestrebten Paradigmenwechsels, soll die „Smart Factory“ werden: eine Umgebung, in der Maschinen, Werkstoffe und Produkte miteinander kommunizieren, Daten sammeln, sie interpretieren und ständig dazulernen – von Menschen nur noch beaufsichtigt.

 

 

 

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Der kalifornische Hightech-Konzern Google tüftelt an einer Kontaktlinse für Diabetiker, die in den Tränen den Blutzuckerspiegel misst und die Daten zum Smartphone funkt.

Autos werden Teil des Internets. Sie liefern Fahrern relevante Informationen, melden sich, wenn sie gewartet werden müssen, und füttern die „smart factory“ mit technischen Daten.

 

Schneller als gedacht

Was damals als Revolution angekündigt ist, beruht auf einer Evolution verschiedener Entwicklungsstränge. Die Vorstellung, Gegenstände mit intelligenter Software zu kombinieren, hatte der deutsche Kybernetiker Karl Steinbuch bereits 1966 beschrieben. Er sagte voraus, dass es in wenigen Jahrzehnten kaum Industrieprodukte geben werde, in die kein Computer eingewoben sei. In den 1970er-Jahren wurde die computerintegrierte Fertigung (CIM) entwickelt – ein Konzept, das auf eine durchgängige digitale Verknüpfung von Informationen innerhalb der Produktion abzielt.

Anfang der 1990er-Jahre formulierte ein US-Informatiker erstmals die Vorstellung einer umfassenden virtuellen Vernetzung der Welt und ihrer Gegenstände. Darin war das „Internet der Dinge“ (Internet of things, IOT) bereits angedacht, erstmals als solches benannt wurde es im Jahr 1999.

Ein weiterer Wegbereiter der „Industrie 4.0“ ist das Cyber-physische System (CPS), das erstmals 2006 in Fachkreisen diskutiert wurde. Der Begriff steht für Hardware- und Softwarekomponenten, die in ein Produkt integriert sind und sich untereinander, mit anderen Systemen sowie mit einer zunehmend vernetzten Umwelt austauschen. Aus vielen Ideen und Konzepten entwickelte sich eine vage Vision.

 

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Bis 2020 sollen weltweit rund 50 Milliarden Geräte wie Sensoren, Sicherheitskameras, Fahrzeuge und Produktionsmaschinen miteinander vernetzt sein.

 

Science Fiction wird real

Was schwäbische Spielzeugameisen in Hannover vorführen, ist keine Science Fiction mehr. In der metallverarbeitenden Industrie hat zum Beispiel ein Hersteller von Gehäusen und technischen Geräten bereits flexible Fertigungsanlagen im Einsatz, die diverse Metall- und Blechsorten auf unterschiedliche Weise verarbeiten, umformen, fräsen, bohren, schleifen oder lackieren können. Auf einer Fertigungsstrecke können Rohlinge in unmittelbarer Abfolge zu völlig unterschiedlichen Gehäusen geformt werden. Jedes Bauteil verfügt über einen extrem hitzebeständigen Funkchip, der einzelnen Werkzeugen auch unter rauen Produktionsbedingungen zuverlässig mitteilt, wie es verarbeitet werden möchte. Die Anlage ermöglicht so eine klassische Serienproduktion, doch ohne Aufwand lässt sich jederzeit eine Einzelfertigung dazwischen schieben.

 

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Die Fabrik der Zukunft organisiert sich selbst. Sie produziert hochflexibel und auf Kundenwunsch auch Maßanfertigungen zum Preis einer Massenproduktion.

Das Fraunhofer-Institut schätzt, dass Unternehmen Bestandskosten um 40 % senken können. Bei Fertigungs-, Logistik- und Lagerkosten sollen sich 20 % einsparen lassen.

 

Programmiert zum Mitdenken

Sogar das Tempo ihrer Verarbeitung können einzelne Bauteile selbst bestimmen. Bei Bedarf durchläuft ein später in die Produktion gestarteter Rohling die Fertigungsstrecke schneller und überholt andere Werkstücke. Das vermeidet unnötige Warteschleifen, und die Produktion lässt sich flexibler an den Arbeitsrhythmus der Monteure anpassen. Kommt etwa ein Mitarbeiter in Verzug, erkennt die Anlage die Abweichung vom ursprünglichen Plan und passt die Abläufe neu an. Gleichzeitig dokumentieren eingebettete Systeme in den Werkzeugen deren Abnutzung. Die Produktionsleitung weiß zu jedem Zeitpunkt, wie viele Gehäuse sie in einer bestimmten Qualität noch mit demselben Bohrkopf verarbeiten kann. Die Abläufe sind geschmeidig und effizient – intelligent eben.

 

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Constanze Kurz, Vorstandsmitglied der IG Metall, und Leiterin des Gewerkschafts-Thinktanks „Zukunft der Arbeit“: „Wir müssen die Arbeitswirklichkeit der digitalen Welt anerkennen. Roboter werden vom Werkzeug zum Kollegen.“ In den nächsten zehn Jahren soll die „Industrie 4.0“ rund 390.000 Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe schaffen – vor allem für Ingenieure, Informatiker und Softwareentwickler.

 

Wer nimmt wem den Job weg?

Ist das die schöne neue Welt der Arbeitsteilung? Wo Maschinen selbstständig arbeiten, ändert sich unweigerlich die Rolle der Humanoiden. Überflüssig werden sie nicht, sagt Stefan Gerlach, Arbeitswissenschaftler am Fraunhofer Institut. „Wir werden die Menschen als Entscheider, aber auch als Akteure brauchen, denn wir können nicht alles automatisieren.“ Dennoch stehe ein Wandel bevor, auf den sich Arbeitswelt und Gesellschaft weiter vorbereiten müssen. Deutschland kämpfe schon jetzt mit einem Fachkräftemangel, der sich noch einmal verschärfen werde. Deshalb gelte es, neben zukunftsweisender Technik auch Konzepte zur Fortbildung und zur optimalen Ausbildung künftiger Generationen entwickeln.

 

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Jeder zweite Entscheidungsträger in der Industrie in Deutschland, Österreich und der Schweiz hat noch nichts von dem Begriff „Industrie 4.0“ gehört.

42 % der Unternehmen mit einem Umsatz zwischen 50 und 125 Millionen Euro geben an, dass die Digitalisierung in ihrer Geschäftsstrategie keine Rolle spielt. Im europaweiten „Index für digitale Wirtschaft und Gesellschaft“ landet Deutschland unter 29 Ländern lediglich auf Rang 10.

 

Gute Prognose für Wirtschaftsstandort Deutschland

Für die Umsetzung der „Industrie 4.0“ ist Deutschland ein günstiger Standort. Er verfügt im internationalen Vergleich über einen großen produzierenden Mittelstand, der einem starkem Wettbewerb ausgesetzt ist und sich daher selbst rationalisieren musste. Andere große Industriestaaten wie etwa Großbritannien und die USA verfügen zwar über technisches Know-how, hatten ihre Produktion in der Vergangenheit aber weitgehend ausgelagert. Produktions-Platzhirsche wie China haben dagegen lange Zeit auf günstige Arbeitskräfte gesetzt und weniger in Fachwissen investiert. Vor diesem Hintergrund sehen Experten Deutschland als leistungsfähige Industrienationen in einer Vorreiterrolle für die vierte industrielle Revolution.

 

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EU-Kommissar Günther Oettinger: „Es ist klar geregelt, wem ein Haus gehört und wem ein Auto. Das muss es auch für die digitale Welt geben.“
Reinhold Festge, der Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA): „Wenn diese Daten abgegriffen werden, kann ein mittelständisches Unternehmen seinen Wettbewerbsvorteil und damit seine Existenzberechtigung verlieren.“
Mittelständische Unternehmen fürchten eine Abhängigkeit von der technischen Infrastruktur, zu viel Transparenz im Wettbewerb und den Verlust der Datensicherheit.

 

Viele offene Fragen

Der Erfolg der „Industrie 4.0“ wird nicht allein auf dem Feld der Technik entschieden. Verbindlich geklärt werden muss zum Beispiel auch die Frage der Daten-
sicherheit. Offensichtlich ist bereits, dass Informationen über Verbraucher der Rohstoff der Zukunft sind. Aber wem gehören sie? Dem Produkthersteller, dem Dienstanbieter oder dem Verbraucher? Ein ökonomischer und juristischer Knackpunkt. Die Politik muss die Eigentumsrechte in der wuchernden Datenwolke regeln, Sozialpartner müssen neue Arbeitsplätze beschreiben und Berufswege definieren und Schulen die Jugend an die neue Arbeitswelt der digitalen Vernetzung heranführen.

Zählen werden letztlich auch der Mut und die Bereitschaft, einen tiefgreifenden Strukturwandel anzugehen. Die Chancen stehen gut, nun wollen sie genutzt werden.

 

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